Massenprotest in Polen - kein Interesse in der Schweiz?

Eine Bekannte aus der Schweiz hat sich erstaunt erkundigt, weswegen in der Schweiz so wenig über die Massenproteste gegen die Verschärfung des Abtreibungsgesetzes in Polen berichtet wird. Im Folgenden werden die Hintergründe des Protests kurz zusammengefasst und Erklärungen für die fehlende Berichterstattung gesucht.

Am 3. Oktober haben tausende Frauen in Polen die Arbeit und das Studium aus Protest niedergelegt, weil das ohnehin schon sehr restriktive Abtreibungsgesetz noch einmal verschärft werden soll. Alleine in Warschau sollen gemäss Informationen von Behörden zufolge 25'000 Demonstrantinnen trotz Regen auf den Strassen protestiert haben. Weltweit haben sich Menschen mit den Frauen in Polen solidarisiert. Heute kann in Polen eine Frau abtreiben, wenn sie vergewaltigt wurde, oder wenn der Fötus irreparabel geschädigt ist. Zukünftig soll selbst das nicht mehr möglich sein. Nur Frauen deren eigenes Leben unmittelbar bedroht ist, sollen von Ärzten noch Unterstützung erhalten dürfen. Dabei ist das Gesetz so restriktiv, dass eine legale Abtreibung fast unmöglich gemacht wird. Wer trotzdem abtreibt, dem drohen bis zu fünf Jahren Gefängnis. Erleidet eine Frau eine Fehlgeburt, gilt sie zukünftig als verdächtig abgetrieben zu haben. Vorgeschlagen hat das Gesetz nicht etwa die konservative Regierung, sondern ein Komitee von Abtreibungsgegnern, die sich "Stop Aborcij" nennen. Doch die Regierung unterstützte den Gesetzesvorschlag.

Zum nationalen Frauenstreiktag aufgerufen hat die polnische Aktivistin Marta Lempart. Bereits zuvor war schwarz die Farbe des Protestes, symbolisch für die Trauer um den möglichen Verlust des Rechts auf Abtreibung und der Frauen, die durch eine illegale Abtreibung ums Leben kommen könnten. #czarnyprotest - ein Hashtag ging um die Welt. Nur in der Schweiz so schien es, kam er in den Medien nicht an.

Osteuropa und die Distanz zur Schweiz
Der Eindruck meiner Bekannten täuscht nicht, Polen und die Proteste von tausenden Frauen waren kaum Thema in der Schweiz. Schnell lässt sich herausfinden, dass in Deutschschweizer Medien, abgesehen von Annabelleeinem Bericht der ARD im Echo der Zeit und einer Tillate-Strassenumfrage in Zürich am 3. Oktober in der Deutschschweiz nicht darüber berichtet wurde. Die NZZ-Korrespondentin für Ostmitteleuropa, Meret Baumann, hat in den Monaten zuvor mehrmals und ausführlich über die Pläne eines verschärften Abtreibungsgesetzes publiziert. Abgesehen von diesen Ausnahmen, fehlte die Berichterstattung jedoch leider über weite Teile auch in den vorausgegangenen Monaten. 

Drei mögliche Erklärungen
#1 Die Schweiz und der "Rote Osten"
Die Schweiz ist gefühlt sehr weit weg von Osteuropa. Während die Hauptstadt von Österreich östlicher als Prag liegt, so sind Ljubljana, Warschau und Kyiv in der Schweizer Wahrnehmung nicht so nah wie Paris, Madrid oder Stockholm. Das lässt sich historisch erklären. Die Schweiz war weder Teil eines Königreichs mit Hauptstadt Kaliningrad, noch eines Kaiserreichs mit Ungarn. Als Insel der Glückseligen während beider Weltkriegen fehlt uns - glücklicherweise - die Kriegserfahrung, die besonders in den ost- und mitteleuropäischen Staaten bis heute in einer engeren, wenn auch ungleich komplizierteren, Verbindung nach Deutschland nachwirkt. Das erklärt in Teilen, weswegen im direkten Vergleich zu anderen deutschsprachigen Ländern, osteuropäische Themen in der Schweiz grundsätzlich weniger stattfinden.

#2 Migration aus Polen
Es gab auch Proteste in Zürich, aber im Vergleich zu London und Berlin waren diese sehr klein. Die polnische Community ist in der Schweiz zwar gewachsen, aber im Vergleich zu anderen Gruppen klein geblieben. Lebten Anfang 2015 knapp 21'000 Polinnen und Polen in der Schweiz, waren es zehn Jahre zuvor fünf mal weniger. Um nur einen Vergleich zu ziehen: Es leben zwanzigmal mehr Personen mit kosovarischem Pass in der Schweiz, als polnischem. Je grösser die polnische Community, umso wahrscheinlicher, dass gerade ein solches Thema auch Aufmerksamkeit erhält in den lokalen Medien. Das alleine erklärt selbstverständlich noch nicht, weswegen #czarnyprotest fast gänzlich ausgespart wurde. Denn auch wenn die Demonstration in Zürich klein gewesen sein mag, einen dankbarer Aufhänger um über das Thema zu berichten, hätte sie auf alle Fälle geboten. Laut Auskunft einer anwesenden Demonstrantin in Zürich, waren rund 100 bis 150 Personen anwesend. 

#3 Auslandsjournalismus und Osteuropa
An jeder zweiten Journalismus-Veranstaltung wird erzählt, wie schlimm es aktuell um die Medien stehe. Und leider sind die Neuigkeiten bezüglich der alten Strukturen in der Tat nicht erbaulich, sondern verleiten höchstens zu Galgenhumor. Der teure und aufwändige Auslandjournalismus leidet unter den fehlenden Finanzierungsmodellen verstärkt. Es gibt Ansätze wie Auslandjournalismus auch heute noch funktionieren könnte, aber die bekannteren Beispiele stammen fast ausschliesslich aus dem englischsprachigen Raum. An dieser Stelle weise ich gerne auf interessante Projekte für mehr Berichterstattung aus Osteuropa hin. Für Themen aus Russland wäre dies Dekoder, Coda Story mit monatelangen Recherchen zu einem spezifischen Thema und Global Voices, ein Projekt das vielen Auslandsthemen Aufmerksamkeit verschafft, die sie an anderer Stelle nicht erhalten.
 
Was mich aber weiterhin stört an der Berichterstattung sind die fehlenden Stimmen von polnischen Frauen, die tatsächlich an den Protesten teilgenommen haben und die unter einer Gesetzesverschärfung zu leiden hätten. In allen oben erwähnten Berichten, wird direkt nur eine polnische Demonstration zu ihrer Meinung befragt. Ich habe mich deswegen bei zwei Bekannten in Warschau umgehört und Ihnen ein paar Fragen gestellt.  

Weswegen hast du am #czarnyprotest teilgenommen?
Julia Mardeusz, Warschau
"Ich bin der Meinung, dass die vorgeschlagenen Veränderungen lächerlich sind und zeigen, dass es völlig an Respekt gegenüber Frauen fehlt. Die Verschärfung des Abtreibungsgesetzes würde uns zurück ins Mittelalter bringen. Sollte der Gesetzesvorschlag tatsächlich umgesetzt werden, würde ich Poland voraussichtlich verlassen."
Gosia Sobolewska, Warschau

"Ich nehme aus drei Gründen am Protest teil: Ja, auch ich möchte Kinder haben, wie viele andere Frauen auch, die sich vor Ort versammelt haben. Wir verlangen normale medizinische Versorgung durch Spezialisten während der Schwangerschaft. Zweitens, wann auch immer ich mit tragischen Umständen konfrontiert sein sollte, unter welchen eine Abtreibung zur Zeit möglich ist, möchte ich selbst für mich entscheiden können. Drittens, wenn wir Frauen in anderen Situationen, als den heute erlaubten, eine Abtreibung benötigen, sollten wir Entscheidungsfreiheit haben. Wir können am besten urteilen bezüglich unseres eigenen Lebens."

Es ist bereits jetzt sehr schwierig für Frauen in Polen eine Abtreibung machen zu lassen. Ist deiner Meinung nach trotzdem eine Mehrheit in Polen für eine Verschärfung des Gesetzes?
Julia Mardeusz, Warschau
"Es gibt diesbezüglich unterschiedliche Studien. Die Fact Checking-Website, für die ich arbeite, erhielt eine neue Untersuchung dazu vor einigen wenigen Tagen. Auf die Frage: "Was sollte unternommen werden bezüglich dem bestehenden Abtreibungsgesetz?" antworteten nur 11 Prozent aller Befragten mit einer Verschärfung des bestehenden Gesetzes . 47 Prozent sprachen sich für das bestehende Gesetz aus und 37 Prozent für ein liberaleres Abtreibungsgesetz."
Gosia Sobolewska, Warschau
"Es ist schwierig eine Abtreibung in Polen zu machen, aber es ist nicht unmöglich. Es gibt Organisationen, die Frauen unterstützen ausserhalb des Landes. Es ist weit verbreitet in andere Länder zu reisen für eine Abtreibung - sofern das Geld ausreicht. Aber wenn eine Frau abtreiben möchte, dann findet sie einen Weg. Deswegen bin ich der Meinung wir sollten diese Scheinheiligkeit beenden. Abtreibungen existieren und sie werden gemacht unabhängig von der Meinung anderer Leute. Wenn wir es legalisieren, wird es in einem sicheren und hygienischen Umfeld geschehen."

Bist du optimistisch, dass die Proteste eine Verschärfung des Gesetzes verhindern können?
Julia Mardeusz, Warschau
"Ich bin nicht sehr optimistisch, dass das bereits bestehende Gesetz liberalisiert werden könnte durch die Regierung. Aber die Proteste könnten dazu führen, dass es wenigstens nicht zu einer Verschärfung kommt. Bereits heute hat sich die Regierung von dem Gesetz distanziert und gesagt, es sei nicht ihr Vorschlag sondern von einem Bürgerinitiativkomitee."

Gosia Sobolewska, Warschau
"Die Regierung kann, trotz ihrer rücksichtslosen Kommentare, langfristig die massiven Proteste nicht ignorieren. Wenn sie nicht zur Kenntnis nehmen, was wir ihnen im Moment entgegenschreien, werden wir uns mit weiteren Protesten darum kümmern, dass sie nicht aufhören können davon zu hören."


Es gab Stimmen aus Polen, die die Proteste als Anfang von Ende der nationalkonservativen Regierung bezeichneten. Teilst du diese Meinung?
Julia Mardeusz, Warschau
"Ich bin unsicher. Zum einen zeigte der Protest, dass die Menschen genug davon haben, dass die Regierung eine Linie überschritten hat, aber ich denke es liegt noch ein weiter Weg vor uns. Es hat bereits in den vergangenen Monaten sehr grosse Proteste gegen die Regierung gegeben, aber diese hat kaum Notiz davon genommen."

Warst du überrascht über die grosse Zahl an Demonstrantinnen, oder hast du damit gerechnet?
Julia Mardeusz, Warschau
"Ich hatte befürchtet, dass die polnischen Frauen nicht genügend Zeit haben um den Streik zu planen und zu protestieren, umso mehr bin ich beeindruckt davon, dass so viele Proteste und Aktionen stattgefunden haben. Obwohl es sehr kalt und regnerisch war, hatte es mit 30'000 Demonstrantinnen und Demonstranten so viele, dass wir keinen Platz auf dem vorgesehenen Schlossplatz fanden. Auch in anderen Städten Polens, grossen und kleinen,  fanden Demonstrationen statt."
Gosia Sobolewska, Warschau
"Es ist definitiv eine grosse Bewegung. Ich bin im Menschenrechtsbereich aktiv, weswegen dies nicht mein erster Protest ist. Aber es ist der erste Protest an welchem du deinen Nachbar triffst, deine Mutter, deine Schwester und die Angestellten eines Geschäfts aus der Nähe. Es ist zum ersten Mal passiert, dass du in den Bus steigst und die Mehrheit aller Frauen schwarz angezogen ist. Zum ersten Mal steigen aus Solidarität alle bei der gleichen Haltestelle aus und gehen zusammen protestieren. Die Idee eines Streiktages ist erst eine Woche alt, aber als ich sie wachsen sah, mit Schulen und Universitäten, die den Streik unterstützen, habe ich mit einer Schwarzen Welle auf der Strasse gerechnet."

Gibt es noch etwas, was du gerne zu #czarnyprotest sagen möchtest?
Julia Mardeusz, Warschau
"Ich bin sehr glücklich, dass so viele wütend wurden und am Protest teilgenommen haben. Aber es ist sehr, sehr deprimierend, dass wir für eine solch fundamentale Sache kämpfen müssen. Eine solche Diskussion sollte 2016 nicht mehr nötig sein."